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Zeitreise mit Brangäne

In der Garderobe bei der Vorstellung

Es ist ein sonniger Tag im August 2012, an dem Tristan und Isolde durch das 20. Jahrhundert reisen: In Christoph Marthalers Bayreuther Inszenierung werden Solisten und Zuschauer auf eine Tour durch mehrere Jahrzehnte mitgenommen. Das Geschehen der drei Aufzüge erstreckt sich über drei ganz unterschiedliche Epochen, was sich vor allem an Anna Viebrocks Kostümen und der dazugehörigen Maske ablesen lässt. Das bedeutet für die Solisten sowie die Mitarbeiter von Maske und Garderobe eine besondere Herausforderung: Für jeden Aufzug muss jede Rolle äußerlich neu gestaltet werden, so auch Isoldes treue Dienerin Brangäne, die von Michelle Breedt gesungen wird.

Auf ins Cornwall der 1930er-Jahre

Um 15 Uhr, eine Stunde vor Beginn der Aufführung, fängt Michelle Breedts Maskenzeit an. Von der Sommerstimmung draußen bleibt in der Damen-Solo-Garderobe im Festspielhaus nur die Temperatur: Draußen sind es 25°C, auf der Bühne werden es noch ein paar Grade mehr sein. Michelle Breedt verwandelt sich in eine Brangäne im Stil der 1930er Jahre, Typ bebrillte Gesellschafterin/Anstands-Wauwau einer Dame der Society in Tweed und Strick. In diesem Jahrzehnt ist der erste Aufzug angesiedelt. „Perücken und Kostüme dieser Produktion sind nicht unbedingt sängerfreundlich – gerade bei diesem Wetter“, sagt Michelle Breedt. „Aber es hilft natürlich, um sich in die Rolle zu finden, wie der Regisseur sie sieht.“ Zuerst werden ihre Haare „geschneckelt“, damit die Perücken später gut sitzen. Während die Maskenbildnerin Heike Ungerer an ihren Haaren und am Makeup arbeitet, studiert die Mezzosopranistin noch im Klavierauszug. „Die Verwandlung ist ja nicht nur äußerlich, sondern auch eine innere. Ich rufe mir vor jeder Vorstellung akribisch Text und Dynamik ins Gedächtnis, auch wenn ich eine Partie hundertmal gesungen habe. Das ist sehr wichtig und geht nicht erst auf der Bühne, von 0 auf 100. Spontaneität und Inspiration sind wichtig, aber zur Kunst gehört vor allem auch Können – und daran muss man arbeiten.“

Bei der Maske übernimmt Heike vor allem Grundierung und Augen-Makeup. Und beim Aufsetzen der brünetten, etwas struppigen, gelockten Perücke auf die geschneckelten blonden Strähnen. Um einiges kümmert sich die Sängerin selbst: Lippen und Wimperntusche übernimmt sie gern selbst: „Manchmal ist auch das wie eine Meditation, die auf die Rolle vorbereitet.“ Im Laufe der Zeit hat sie sich einiges abgeschaut. Viele Tipps nimmt sie mit für den Alltag: „Nicht überall gibt es Maskenbildner, gerade bei Konzerten. Da ist es hilfreich, wenn man hier aufmerksam zuschaut und auch selbst ausprobiert.“ Die Grundierung der Wimpern hat sie jedoch Heike überlassen. „Da ich im ersten Akt eine Brille trage, kann ich nicht wie im zweiten Akt künstliche Wimpern tragen. Daher muss hier besonders gründlich gearbeitet werden, damit die Augen gut definiert sind.“ Das ist für die Fernwirkung auf der Bühne wichtig. Zwischendurch singt sie sich immer wieder ein, während von nebenan zwischendurch immer einmal der Isolden-Sopran von Iréne Theorin ertönt.

Erst wenn die Maske fertig ist, zieht die Sängerin zunächst selbständig das Kostüm an. Aus dem Lautsprecher ertönt bereits der Ruf des Inspizienten: „Frau Breedt, Frau Theorin, bitte auf die Bühne.“ Brangäne erscheint im knöchellangen Tweed-Wickelrock, hochgeschlossener Bluse und bordeauxfarbener Strickjacke auf dem Garderobenkorridor.

Zum Schluss fehlt nur noch die Brille – und fertig ist das 1930er-Jahre-Outfit einer alten Jungfer. Die Brille ist ein wichtiges Requisit, denn sie ist nicht nur Teil der Maske: „Ich mache unheimlich viele Gesten damit, die alle etwas erzählen. Im ersten Akt hilft sie mir sehr, mich in meine Rolle zu finden.“ Gemeinsam mit Isolde macht sie sich nach einem letzten Check auf den Weg zur Bühne. „Wir fahren nach Cornwall!“ verabschiedet sie sich von den beiden Maskenbildnerinnen und den beiden Garderobieren, die das Damensolo betreuen.

In die Swinging Sixties

17.50 Uhr, einen schweißtreibenden 1. Aufzug in Tweed und Strick später. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn des 2. Aufzuges sitzt Michelle Breedt wieder vor dem Spiegel in ihrer Garderobe. Sie hatte ein wenig Zeit, sich auszuruhen. Jetzt muss sie sich für den nächsten Akt verwandeln. „Auf den ersten Blick erscheint die Pause lange, aber angesichts der Maskenzeit bleibt nicht viel Zeit fürs Entspannen und Kräftesammeln.“ Akt II ist im Stil der 1960er Jahre gehalten: Entsprechend verändert Heike das Augen-Makeup. Mit einem dicken Lidstrich entstehen die ikonenhaften Katzenaugen der Ära. Künstliche Wimpern, die sie mit einem speziellen Latexkleber befestigt, vervollständigen den stilisierten Sixties-Look. Die Krönung ist die Perücke im gleichen Brünett-Ton wie im 1. Aufzug: Kunstvoll auftoupiert mit prononcierter Außenwelle erscheint sie wie einer Haarspray-Werbung der Sechziger entsprungen.

„Im ersten Akt ist mein Kostüm sehr bieder und wenig charmant. Brangäne ist hier eine altbackene Jungfer. Das ändert sich beim Kostüm im 2. Akt. Sie ist dann mehr Lady“, sagt Michelle Breedt über die beiden Kostüme im Vergleich. Sie singt nun in einer leuchtend grünen Bluse und einem braunen, knielangem Faltenrock, dazu Pumps. Nach dem Umziehen noch ein letzter Check auf dem Gang der Damensologarderobe. Die Schleife der Bluse muss noch gebunden werden und, nachdem Michelle Breedt aus ihrem Bademantel ins Kostüm geschlüpft ist, muss Heike noch einmal überprüfen, ob die Frisur noch richtig sitzt.
Den einzigen Umzug während eines Aktes hat Brangäne übrigens im zweiten Aufzug – und er betrifft das Schuhwerk: Ihre „Brangänen-Rufe“ ertönen aus dem Orchestergraben. Um dort keinen unerwünschten Lärm zu machen, tauscht sie die Pumps gegen flache Schläppchen mit Gummisohle aus.

Der Gegenwart entgegen

Um 21.45 Uhr wartet die dritte Brangänen-Perücke in der Garderobe auf Michelle Breedt. Der braune Haarschopf ist nun als fast schulterlanger Bob mit Pony frisiert. Die Haare wirken leicht strähnig. „Das erklärt sich aus der Situation,“ sagt Michelle Breedt. „Brangäne soll bei ihrem letzten Auftritt aussehen, als käme sie gerade aus dem Regen. Dafür werde ich nachher auch noch mit Wasser besprüht.“ Sie trägt zudem einen neuen Lippenstift auf, der dem ansonsten eher eintönigen Outfit einen kleinen Farbtupfer hinzufügt. Es ist die dritte Farbe an diesem Abend.

Der 3. Aufzug ist um 1980 angesiedelt. Brangäne ähnelt nun einer Nanny: der Haarschnitt unkompliziert, praktisches Schuhwerk und ein Regencape mit durchlaufender Knopfleiste über den knielangen Rock. „Das Cape hat keine Löcher für die Arme“, wundert sich die Sängerin. Dabei wurde es nicht als Kostüm geschneidert, sondern quasi als Vintage-Stück gekauft. „Saint Laurent, Rive Gauche, Paris“ ist auf dem Etikett zu lesen. „Man fühlt sich ein wenig wie in einer Zwangsjacke“, lacht sie. „Bevor ich mit den Kollegen vor den Vorhang treten kann, muss ich erst einmal wieder aufgeknöpft werden.“ Mit Wassertropfen benetzt verschwindet sie, um ihren letzten Auftritt am Ende des 3. Aufzuges zu absolvieren – die letzte Station ihrer Zeitreise.

© Bayreuther Festspiele 2012 / Andrea C. Röber